Turbo Integration?
Eine afghanische Frau mit ihren zwei Töchtern ist im April dieses Jahres bei uns eingezogen. Zunächst war ihr Bleiberecht in Deutschland abgelehnt worden, es drohte die Abschiebung zurück in die Slowakei. So wollte es die Dublin II-Verordnung: Zurückweisung von deutscher Seite in das EU-Land, in welches Flüchtlinge zunächst in die EU einreisen. Dort war die Familie zuvor für fünf Monate gewesen, eingesperrt mit wenig Essen und ohne Perspektive auf Asyl und Integration.
Ankunft der kleine Familie
Als die drei bei uns ankamen begegnete ich einer total verängstigten Frau mit einer einzelnen Elektroherdplatte im spärlichen Gepäck, auf der sie auf ihrem langen Weg der Flucht ihren beiden Töchtern das Essen bereitet hat. Die Mädchen warfen sich jauchzend auf den feuerroten Teppichboden ihres Zimmers und strahlten ob der eigenen Wohnung – vielleicht ein neues Zuhause? Ein befreundetes Ehepaar übernahm die Patenschaft, lehrte die deutsche Sprache, Fahrradfahren und Kultur, der evangelische Pfarrer übernahm die Betreuung und Organisatorisches, Nachbarn und Nachbarskinder wurden Freunde, Mutter und Töchter gewannen Vertrauen und Offenheit, häufig gab es aber auch Tränen. Vergangenes ist zu bewältigen, der Krieg, die Flucht, allein ohne die Familie, Unsicherheit, Angst vor der Fremde und Fremdartigkeit.
Auffanglager in Eisenhüttenstadt
Im August war das Kirchenasyl hier beendet und Mutter und Töchter mussten zurück ins Auffanglager nach Eisenhüttenstadt, damit das Asylverfahren in Deutschland nun beantragt werden konnte – Asylfolgeantrag nennt sich das dann. Wir mussten unsere Familie in der Erstaufnahme wieder allein lassen, am Covid-19-bedingt errichteten Zaun abliefern wie ein Paket oder einen Hund, erneut eingesperrt, isoliert für fünf Tage wegen Corona, trotz 2-facher Impfung und erneut voller Angst vor der ungewissen Zukunft. Es tat unendlich weh, die drei am Tor in Eisenhüttenstatt weinend ihrem Schicksal überlassen zu müssen. Auch ich habe auf der Rückfahrt geweint vor Angst und Zorn, hilflos gegenüber dem doch sehr unmenschlichem Verfahren zum Asylgesuch.
Angekommen
Aber dann war plötzlich wieder so viel Hilfe da! Kontakte über den „Runden Tisch Willkommen“ und tolle Mitarbeiter in der Ausländerbehörde unterstützten uns und schon 3 Wochen später hatte die Familie eine Zuweisung in die Gemeinde Wandlitz und konnte nun offiziell bei uns einziehen. Unglaublich viel war plötzlich zu erledigen, einiges steht immer noch aus. Die ersten Behördenhürden: Ausländerbehörde, Sozial- und Finanzamt sowie Einwohnermeldeamt, Kontoeröffnung, Passfotos etc. sind genommen und alle Behördenmitarbeiter und Ansprechpartner waren sehr hilfsbereit und freundlich. Die Verständigung ist ja nicht einfach, wenn man verschiedene Sprachen spricht, verschiedene Schriften verwendet. Zusammen haben wir das bisher sehr gut gemeistert und ich freue mich sehr über die Offenheit der Menschen und der guten Willkommenskultur in unserer Region.
Stolz radelt bereits 14 Tage später die große Tochter jeden Morgen zur Schule, gemeinsam mit ihrer bereits zuvor gewonnenen Freundin von nebenan. Die beiden verstanden sich sofort perfekt. Das tolle Engagement der Schulleitung, der Klassenlehrerin und der Hortbegleitung machten dieses möglich. Die jüngere Tochter wurde herzlich in der Kita aufgenommen. Danke sehr!
Wenn ich die aktuellen Nachrichten verfolge und sehe wie viele Menschen in Not aus aller Herren Länder unterwegs sind, wenn ich heute in der Zeitung lese, dass „Bundesinnenminister Horst Seehofer offenbar Überlegungen unterstützt, gegen die zunehmende Migration über Belarus und Polen Maßnahmen einzuleiten…. Seinem polnischen Amtskollegen Mariusz Kaminski hat Seehofer bereits gemeinsame Streifen an der deutsch-polnischen Grenze vorgeschlagen.“(vgl.Tagesspiegel) und dass Rechtsextreme bewaffnet mit Bajonetten, Macheten und Schlagstöcken Menschenjagden auf Flüchtlinge an unseren Grenzen organisieren, bin ich sehr glücklich, dass unsere kleine Familie hier angekommen und in Sicherheit ist.
In Afghanistan haben die Taliban wieder die Macht übernommen und verhängten zwischenzeitlich erneut ein Verbot für Frauen zum Besuch der höheren Schule. In Wandlitz können die Mädchen sich frei bewegen, lachen und lernen. Eine Turbo-Integration ist wohl nur in der behördlichen Ordnung und äußerlich möglich. Immer wieder stoßen wir an unsere Grenzen im gegenseitigen Verstehen von Sprache, Kultur, Zukunftsvisionen und Wünschen. Es bleiben zunächst Angst und Verunsicherung auf beiden Seiten. Wir versuchen zusammenzuwachsen. Vermutlich sind die Mädchen auch ein Stück unserer Zukunft und es hängt von uns allen ab.
Verfasser:in:
Judith Dubiel