Besuch bei Freunden

Makariv

Eigentlich ist alles ganz normal. Die Leute laufen geschäftig durch das Zentrum des kleinen Ortes ihren Erledigungen hinterher. Autos, die fernab jeder Zulassung sein müssten, scheppern in halsbrecherischen Manövern durch die staubigen Straßen des Dorfes, ein bärtiger Trinker freut sich zahnlos über irgendwas und die Kopftuchmatkas in ihren abgewetzten Mänteln werten auf dem Marktplatz die letzte Woche aus.
Auffallend viele blaugelbe Fahnen und rote Nelken vor einer Tafel mit den Portraits junger Männer. Eine alte Frau bekreuzigt sich weinend. Vielleicht irgendein Jahrestag?
Ein paar völlig zerstörte Häuser wechseln sich mit ausgebesserten Fassaden ab. In einigen Wänden klaffen kreisrunde Löcher. Manchmal fehlt einfach eine Hausecke und manchmal ist nur noch eine da. Je nachdem, wie die Artillerie getroffen hat. Ansonsten alles normal.

„Sechzig Prozent der Schäden sind bereits beseitigt.“ sagt Vadym, der Bürgermeister, unaufgeregt sachlich. „… und das in knapp zwei Jahren“ raunen sich die Mitglieder der kleinen Delegation zu.
Das Programm für die Wandlitzer ist vollgepackt mit Terminen und Besprechungen. Ganz normal, wenn sich Partnergemeinden besuchen.
Weiter gehts durch die weitläufig zersiedelte Gemeinde über eine neue Brücke. Der Bürgermeister lässt es sich nicht nehmen und fährt selbst, ausgesprochen sportlich.
„Hier war letztes Jahr noch mehr Loch als Brücke.“ meint Oliver. Der ist das vierte Mal hier und hat die Partnerschaft initiiert. Mittlerweile sind die beiden Bürgermeister Freunde, so schön wie normal.
Nächster Punkt, Gedenken an die Kriegsopfer, mir als gelerntem DDR-Bürger nicht unbekannt. Hier allerdings für Männer, die noch vor zwei Jahren ihre Kinder aus dem örtlichen Kindergarten abholten und danach Eis essen gingen. Die Kindertagesstätte gibts auch nicht mehr. Wahrscheinlich ein wichtiges Kriegsziel, provisorisch neu aufgebaut in den Räumen der alten Schule, wo die Russen ihre Gefangenen gefoltert haben. Surreal beim Anblick der Kinderbetten und Stoffhasen.

Auf der Rückfahrt dann verschlafene, ukrainische Nester, ganz normal.
Hin und wieder ein völlig zersiebter Blechzaun. Ob da ein ganzes Magazin durchgegangen ist? Und was ist wohl im März 2022 hinter dem Zaun passiert?

Nach dem Mittagessen, Fotoausstellung „33Tage!“ im wieder aufgebauten Kulturzentrum, so mit Tradition und vielen teils martialischen Fahnen von Kampfeinheiten und eigentlich nicht so mein Ding. „Alle, die auf dieser Fahne unterschrieben haben, sind tot.“ sagt Alina, die Dolmetscherin, eine junge Frau von ansonsten eher fröhlichem Naturell, mit an Lakonie grenzender Sachlichkeit.

Bei der wieder aufgebauten Feuerwehr ist Vadym nicht dabei, Termine. Nicht ohne Stolz erzählen die Jungs, wie sie fast ohne Hilfe in kürzester Zeit aus Trümmern die neue Wache hingestellt haben.
Plötzlich ein sehr langsam fahrender Polizeiwagen mit Dauersirene, dahinter der Leichenwagen, die Passanten gehen auf die Knie.
Auf dem Marktplatz sehen wir Vadym wieder. Am offenen Sarg eines jungen Soldaten, Abschied nehmen. Das halbe Dorf ist gekommen und geht auf die Knie. „Das machen wir seit knapp zwei Jahren alle zwei Wochen.“ Larysa‘s Gesicht wirkt versteinert, Normalität in Makariv.
Im bürgermeisterlichen Beratungsraum dann Gespräche über Asbest, Müllentsorgung und Pfandsysteme. Weil ich keine Ahnung davon habe, schaue ich mir Bilder der „33 Tage“ an, schwer zu ertragen.

„Man muss den Schnaps nach dem Toast in einem Zug austrinken, das Glas umdrehen, so das der letzte Tropfen auf das Tischtuch fällt, das ist Tradition.“ sagt Maryna, eine energiegeladene Frau aus dem Bürgermeisterteam beim Abendessen. Alina übersetzt. „Und ja, alle müssen eine kurze Rede halten.“ Ich gucke, gespielt gequält und alle lachen.
Es ist lange her, dass ich so viel Schnaps getrunken habe, aber das ist eben so, wenn man Freunde besucht.

Ganz normal halt, so im Krieg.

Friedhof Makariv



Verfasser:in:
otto

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