Gans in weiß
Juni 2022
Neulich vorm Goldenen Löwen, eine ältere Dame ganz in Weiß hält mir mit vorwurfsvollem Blick ein Pappschild mit dem Wort „Frieden“ vors Gesicht. Ich fühlte mich sofort schuldig. Hatte ich wieder was falsch gemacht? War ich wieder einmal auf der falschen Seite? Ich bin ja sowieso einer von denen, die sich immer gleich entschuldigen, während andere schon die Hand auf der Hupe haben.
Weitere ebenfalls in strahlendes Weiß gewandete Menschen versuchten mit anderen Schildern „3. Weltkrieg verhindern, verhandeln“, „Verhandeln statt schießen“, und „Mündige Bürger statt Untertanen“ den in die Kulturbühne strebenden Volkvertretern substantiell Erhellendes mit auf den Weg zu geben. Intellektuell herausfordernd fand ich „Denken statt Gendern“ und während ich noch überlegte, ob vielleicht auch beides gehen könnte, hasteten die Würdenträger, die einfach gehaltenen Hinweise mit starrem Blick ignorierend, vorbei.
Spontan fasste ich den Entschluss, deeskalierend auf die weißen Menschen zuzugehen um ihnen zu versichern, dass ich keine Schusswaffe bei mir trage und selbstverständlich jederzeit zu Verhandlungen bereit wäre, auch wenn ich nicht so recht wüsste, worüber und mit wem. Allein, die grimmigen Mienen
der weißen Schildbürger ließen mich von meinem Vorhaben Abstand nehmen. Ich fürchtete mich ein wenig vor so viel Friedlichkeit. Im Verlauf der Demonstration der Tugenden wurde dann auch noch ein Rudel weiße Tauben freigelassen, was meine Zustimmung fand. Die Tiere waren entgegen meiner Annahme wohl doch nicht zum Verkauf und späteren Verzehr vorgesehen, auch hockten sie recht beengt in ihrem Käfig und entfernten sich nach Öffnung der portablen Haftanstalt rasch von diesem friedlichen Ort.
Leicht verwirrt schaute ich vom flüchtenden Getier an den Aushang der Kulturbühne. Doch, heute war Gemeindevertretersitzung, weder Vollversammlung der Taubenzüchter noch Friedenskonferenz von Jalta. Nicht lange her, da wurde mir ob meiner Schreibereien die gar nicht so freundlich gemeinte Zuschreibung des linksgrünversifften Gutmenschen zuteil und kaum hab ich mich damit arrangiert und sogar einen gewissen Stolz darauf entwickelt, wird
sie mir durch die vorwurfsvolle weiße Frau mit nur einem Wort auch gleich wieder aberkannt.
Ich bin also nicht für den Frieden. Ich habe keine weiße Jacke, keine Friedenstaube und will den dritten Weltkrieg nicht verhindern. Ich bin nur ein Untertan, verhandlungsunwillig und nicht mal zu einem engagierten Spaziergang fähig. Enttäuscht von meiner eigenen Schluffigkeit betrete ich den Saal des politischen Geschehens. Die legitimierten Mandatsträger engagieren sich gerade, bringen Anträge ein und ziehen sie wieder zurück, stimmen ab, ob man abstimmen sollte und enthalten sich dann. Es werden Fragen gestellt, die keiner versteht und auch keiner beantwortet, die aber zu Protokoll genommen werden, das eh keiner liest.
Das ist dann wohl Demokratie, denke ich, ganz schön kompliziert. Warum fragen die nicht einfach die weiße Frau? Die würde dann vielleicht lächelnd ihr Schild hochhalten und alles wäre klar. Die Welt könnte so einfach sein.
Verfasser:in:
Otto