25. November 2024: Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen
Häusliche Gewalt und Ungleichbehandlungen: Barnimer Dipl. Psychologin Wiebke Wiedeck im Gespräch mit WPunkt über die „Initiative Zukunft Ohne Gewalt – Gewaltfreie Familien, Beziehungen, Gesellschaft“
Frau Wiedeck, Sie sind Gründerin der bundesweiten „Initiative Zukunft Ohne Gewalt- Gewaltfreie Familien, Beziehungen, Gesellschaft“- was tun Sie da für wen?
Die Initiative IZOG wurde 2020 gegründet – nicht nur aus der Erkenntnis, dass Gewalt ein großes gesellschaftliches Problem ist, sondern auch aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen aus über 34 Jahren Arbeit mit Frauen. Ich habe mit mehr als 5000 Frauen gearbeitet, und über 80 Prozent von ihnen waren von Gewalt betroffen. Diese erschreckende Zahl hat mich motiviert, eine Plattform zu schaffen, die Ursachen erforscht und gezielt Hilfsangebote entwickelt.
Ein erster Schritt ist eine bundesweite Feldstudie, in der wir über 400 Organisationen und Anlaufstellen befragen, um deren geballtes Wissen zu sammeln. Unser Ziel ist es, gewaltgeneigte Personen im Vorfeld zu erreichen, also präventiv zu handeln. Wir denken, dass die Forderungen nach mehr Schutzhäusern oder härteren Strafen für Täter:innen zwar wichtig sind, das Problem an sich aber nicht lösen.
Interessant ist doch die Frage: Warum wird ein Mensch Täter oder Täterin? Erste Erkenntnisse aus der Feldstudie zeigen, dass unsere Gesellschaft nicht nur Abhängigkeiten fördert, sondern diese oft gezielt schafft. Dabei spielen Machtstrukturen, tradierte Rollenbilder und gesellschaftlich gefestigte Vorstellungen von Partnerschaften eine zentrale Rolle. Insbesondere das Besitzdenken in Beziehungen – etwas, das mit echter Liebe nichts zu tun hat – trägt dazu bei, dass Gewalt entsteht.
Wie kann die Initiative IZOG Hilfe leisten?
Viele kennen die Nummer des Hilfetelefons für Frauen, doch kaum jemand weiß, dass es auch Anlaufstellen für tatgeneigte Personen gibt. Genau hier sehen wir eine große Chance: Wenn wir gewaltgeneigte Menschen erreichen, bevor sie eine Tat begehen, können wir viel Leid verhindern. Doch die Tabuisierung des Themas erschwert diesen Ansatz. Sie sorgt nicht nur für gesellschaftliches Wegsehen, sondern verhindert auch eine offene Auseinandersetzung mit diesen Aspekten unserer Gesellschaft. Wir haben kürzlich einen Podcast gestartet, der sich genau diesen Themen widmet.
Finanzielle und systemische Abhängigkeiten verstärken übrigens das künstliche Machtgefälle. Diese Strukturen schaffen einen Nährboden, auf dem Machtmissbrauch und Gewalt gedeihen können.
Für viele Menschen, insbesondere Männer, bleibt es eine große Herausforderung, eigene Probleme einzugestehen und sich Hilfe zu holen. In Deutschland begehen Männer dreimal häufiger Suizid als Frauen. Ein Grund dafür sind tradierte Rollenbilder, die Männern verbieten, Schwäche zu zeigen, zu weinen oder Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Klischee des „immer starken Mannes“ erschwert den Zugang zu Therapien und Hilfsangeboten erheblich.
Gleichzeitig setzt unser System hohe Hürden: Um eine Therapie beginnen zu können, ist in der Regel eine Diagnose einer psychischen Erkrankung erforderlich. Diese Schwelle ist nicht nur problematisch, sondern kann in manchen Fällen sogar Gewalt fördern, da Menschen sich aus Angst vor Stigmatisierung keine Hilfe suchen.
Für die Zukunft wünsche ich mir ein Präventionsprogramm, das psychische Gesundheit niedrigschwellig und zugänglich macht – eine Art „Psychohygiene für alle“. Ein solches Angebot, ähnlich wie die Vorsorgeuntersuchungen der Krankenkassen, könnte langfristig dazu beitragen, eine gesündere und gewaltfreiere Gesellschaft zu schaffen.
Sie bieten Workshops und Webinare an – was können wir dort lernen?
Persönlichkeitsentwicklung spielt eine zentrale Rolle, um Machtmissbrauch zu verhindern und Machtgefälle auszugleichen. Unsere Angebote zielen darauf ab, Menschen zu sensibilisieren und zu stärken, damit sie in kritischen Situationen aktiv werden können.
Ein Beispiel ist unser Webinar zur Zivilcourage. Es ermutigt Teilnehmende, im Alltag einzugreifen, wenn sie Gewalt beobachten oder vermuten – sei es im Umgang mit Älteren, Pflegebedürftigen, Kindern, Lebenspartnern, den eigenen Nachbarn oder Menschen mit Beeinträchtigungen.
Darüber hinaus bieten wir Workshops zu Themen wie Konfliktmanagement und Kommunikation auf Augenhöhe an. Besonders wichtig ist unser Webinar: „Wie verhalte ich mich bei häuslicher Gewalt oder Gewalt gegen Kinder in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis?“. Denn Gewalt ist immer eine bewusste Entscheidung – das gilt nicht nur für Täter:innen, sondern auch für diejenigen, die wegschauen. Deshalb ist es entscheidend, Menschen in die Lage zu versetzen, sich einzumischen, wenn sie etwas bemerken.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Kindern und Jugendlichen, die besonders schutzbedürftig sind. Hier spielen soziale Medien eine große Rolle, insbesondere in Bezug auf die Gefahr sexualisierter Gewalt. Kinder müssen in ihrer Persönlichkeit gestärkt und frühzeitig in Medienkompetenz geschult werden – idealerweise schon in der Schule.
In Wandlitz haben wir uns bisher über Lesungen und die Ehrenamtsagentur bekannt gemacht. Leider fehlen uns noch Kontakte zu Schulen, Jugendclubs und lokalen Jugendorganisationen, die wir aber gerne aufbauen würden – zum Beispiel mit dem IB Internationalen Bund.
Ein besonderes Anliegen ist uns auch die Unterstützung für tatgeneigte Personen. Auf unserer Website stellen wir eine bundesweite Übersicht über Hilfsangebote für diese Zielgruppe bereit.
Zu Ihrer Person: Sie sind Diplom-Psychologin und -Pädagogin, Coachin, Autorin und Künstlerin, wie hat sich dieser Lebensweg auf ihre Tätigkeit ausgewirkt?
Mein Lebensweg ist untrennbar mit meiner Arbeit verbunden, denn ich habe selbst familiäre Gewalt in verschiedensten Formen erlebt. Die schwere Gewalt in meinem Elternhaus hat mich tief geprägt und dazu motiviert, mich für eine Zukunft ohne Gewalt einzusetzen. Gerade weil in meiner Kindheit weder Schule, Ärzt:innen noch die Öffentlichkeit Unterstützung angeboten haben, ist es mir ein persönliches Anliegen, auf dieses wichtige Thema aufmerksam zu machen und sensibel dafür zu werden, wie wir als Gesellschaft besser hinschauen können.
Ich habe mich nie in konservativen Konventionen wiedergefunden und meine beiden Söhne als alleinerziehende Mutter zu sozial starken und empathischen jungen Männern erzogen. Meine Erfahrungen nutze ich, um andere zu stärken und zu inspirieren. In meinem Ende November erscheinenden Kinderbuch ermutige ich bereits Kinder ab zwei Jahren, zu sich und ihrer Persönlichkeit zu stehen, bei Grenzübertretungen „Nein“ zu sagen und achtsam sowie fair mit der Natur und den Tieren umzugehen.
Als Psychologin, Künstlerin und Aktivistin setze ich mich für eine bewusste Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau ein und hinterfrage tradierte Muster und Machtstrukturen. Über meinen YouTube-Kanal teile ich meine Themen mit einem breiten Publikum, um noch mehr Menschen zu inspirieren und aufzuklären.
Wie kann man bei der Initiative Zukunft Ohne Gewalt aktiv werden?
Wir freuen uns über jede Person, die sich engagieren möchte. Unsere Mitglieder teilen die Überzeugung, dass wir als Gesellschaft aktiv werden müssen, um die Fallzahlen von familiärer und Beziehungsgewalt zu senken. Da wir bundesweit vernetzt sind, arbeiten wir hauptsächlich im digitalen Raum und treffen uns regelmäßig in monatlichen Videoschaltungen. Ein Highlight unseres Jahres ist unser Sommerfest, bei dem wir uns persönlich begegnen und den Austausch vertiefen können.
Unsere Arbeit ist vollständig ehrenamtlich, weshalb wir keine Mitgliedsbeiträge erheben.
Für alle, die uns unterstützen möchten, aber selbst keine Möglichkeit haben, aktiv mitzumachen: Auch jede Spende hilft uns, unsere Arbeit voranzubringen. Aktuell möchten wir Aufklärungsvideos für tatgeneigte Personen entwickeln, um Gewalt bereits im Vorfeld zu verhindern. Leider fehlt uns dafür momentan noch die nötige Finanzierung.
Ich stehe zudem jederzeit für ein persönliches Gespräch oder für Vorträge zur Verfügung, um unsere Arbeit und Ziele näher zu erläutern.
Hier finden Interessierte weitere Informationen und unseren Kontakt zur „Initiative Zukunft Ohne Gewalt – Gewaltfreie Familien, Beziehungen, Gesellschaft“.
Externe Links zum Artikel:
https://de.statista.com/themen/6635/gewalt-gegen-frauen/#topicOverview
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/suizide.html#119324
https://www.ifes.fau.de/files/2022/12/FEM-UnitED_country-report_Version-in-Deutsch_DE_IfeS_final.pdf