„Hör zu!“ oder Toleranz-Räume bei uns selber schaffen!

Gedanken nach einer Woche Menschen-Kontakte am Toleranzcontainer

Genau eine Woche vom 9. bis zum 15. September wehten die bunten Streifen in Regenbogenfarben über dem Container der TOLERANZRÄUME mit der Aufschrift „We’re open“ (Wir sind offen!). Ca. 350 Schülerinnen und Schüler und ca. 150 Erwachsene besuchten die Ausstellung und neben vier Frauen und zwei Männern war auch ich 18 Stunden eingeteilt als „Ausstellungs-Guide“. Die Begegnungen in dieser Woche haben mich sehr nachdenklich hinterlassen. Zunächst einmal, was mein eigenes Gesprächsverhalten betrifft. Noch zu Beginn hatte ich beim ersten Treffen der Guides vorgeschlagen: „Wir wollen niemanden überzeugen, wir vertreten als Guides bei dieser Ausstellung keine spezifische Meinung oder politischer Haltung oder Richtung, sondern wir wollen nur dafür werben, dass der Dialog möglich bleibt, dass wir lernen, dialogfähiger zu werden, dass wir erkennen, dass man Toleranz üben muss, und welchen großen Wert für die Demokratie sie hat und wo ihre Grenzen sind“.

 

Und doch habe ich mich in dieser Woche so oft selbst ertappt, wie ich meinen jahrzehntelang eingeübten Mustern folgte: egal, um welches Konflikt-Thema auf dem großen Wimmelbild im Inneren des Containers es ging, soziale Probleme wie Wohnungsnot, Bildungsnotstand, Haltung zu Flüchtlingen, oder Rassismus oder Ausgrenzung von Menschen anderer sexueller Orientierung … Immer wieder ertappte ich mich dabei, nicht den Schwerpunkt darauf zu legen, was ich in diesem Gespräch von meinem:r Gesprächspartner:in vielleicht erfahren könnte, sondern immer wieder in die alte Spur rutschte, meine Argumente loszuwerden, zu überzeugen oder polemischer formuliert: zu missionieren.

Wimmelbild, das den Mittelpunkt der Ausstellung darstellt und den Titel trägt: „Tolerance-City oder Stadt der Konflikte?“ Bildnachweis: Toleranzraeume.org, auschnitt

Das aber ist doch der Unterschied zwischen Toleranz und Dominanz!

 

Immerhin: in dieser Woche wurde es mir mehr als je zuvor bewusst, dass ich daran arbeiten muss, und ich konnte auch lernen, mit der Kritik umzugehen, wenn mein Gegenüber mir eben dieses Verhalten gespiegelt hat.

Ganz im Sinne dessen, was als Zitat von Kurt Tucholsky im Einladungsflyer abgedruckt war: „Toleranz ist der Verdacht, dass der andere Recht hat!“

 

Wenn ich es manchmal geschafft hatte, mich darauf zu konzentrieren, den anderen zu verstehen, „aktiv zuzuhören“, zu versuchen, zu verstehen, warum die Gesprächspartner:in eben diese Haltung an den Tag legt, dann habe ich vor allem dies gelernt:

Wir Menschen sind nicht einfach Träger von Argumentationsketten, Statistiken oder moralischen Wertesystemen. Wir sind vor allem ein Bündel voller Gefühle. Und das ist doch auch der schönste und wichtigste Unterschied zur künstlichen Intelligenz, zu den Robotern zu den Antworten, die ich erhalte, wenn ich eine Frage an mein Smartphone beginne mit: „O. k. Google… oder “Alexa, sag mal…“

 

Am tiefsten berührt hat mich die Geschichte einer Begegnung, die meine Frau Margot mir erzählte: eine Besucherin empfand die Darstellung zum Thema Corona-Maßnahmen und die Kritik daran in der Ausstellung als einseitig, als diffamierend. Und sie beklagte, dass sie, die öfter schon an den Montagsdemonstrationen teilgenommen habe, als Nazi bezeichnet würde, obwohl sie das gar nicht sei. Margot hatte offenbar sehr viel Geduld. Als die Gesprächspartnerin immer und immer wieder beklagte, wie sehr sie sich diskriminiert, abgestempelt und ausgestoßen fühle, antwortete meine Frau: „ich fühle, dass Sie sehr verletzt sind!“ Worauf ihre Gesprächspartnerin zu weinen begann. Meine Frau hat sie dann umarmt…

 

Dieses Bild hat sich bei mir fest eingebrannt. Und immer, wenn ich an diese Begebenheit denke, fällt mir ein, was der bekannte Fußball-Reporter Marcel Reif im Bundestag anlässlich des Holocaust -Gedenktages Anfang dieses Jahres erzählte: sein Vater, Jude wie er, hatte den Großteil seiner Familie in Auschwitz verloren. Darüber konnte er nie reden, aber als Vermächtnis sagte er seinem Sohn drei Wörter: „Sei ein Mensch!“ In diesem Moment waren sich offenbar diese beiden Frauen bewusst: wir sind Menschen! Oder etwas geschraubter formuliert: auch für uns gilt der Art. 1 des Grundgesetzes: „Die Würde (von uns allen) ist unantastbar!“.

 

Gegen Ängste, gegen Hilflosigkeit, gegen Ohnmacht helfen keine Statistiken, Argumentationsketten oder moralische Formeln. Jeder von uns will gesehen werden! Jeder von uns will auch gehört werden!

 

Das war die allerwichtigste Lehre für mich aus diesen sieben Tagen:

 

„Hörzu“ ist nicht nur die erfolgreichste Fernsehzeitschrift in Deutschland, sondern sie kann auch Zauberformel sein, um die Gräben in unseren Familien, in unsere Nachbarschaften, in den Sportvereinen in den Schulen, Kirchengemeinden, bei den Familienfeiern zu überwinden. Hör zu! Widerstehe dem Impuls, im Gespräch siegen zu müssen, nimm Dir vor, besonders darauf zu achten was Du Neues lernen kannst über Deine Gesprächspartnerin/Dein Gesprächspartner. Und – ich wiederhole mich, ich habe es an mir selbst erlebt: diese Haltung entsteht nicht spontan, sie muss ich trainieren wie einen Muskel: Geduld, den tiefen Respekt vor dem anderen Menschen, was auch immer er oder sie für Haltungen, Positionen oder Gefühle äußert. Hör zu.

 

(Nur der vollständigkeitshalber ergänze ich: Das heißt natürlich nicht im Geringsten, dass ich alles teile, was in diesem Land, in dieser Welt geäußert wird.  Natürlich bleibe ich selbst ein erbitterter Gegner von Antisemitismus, von Frauenfeindlichkeit, von Behindertenwitzen oder Ausgrenzung von Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen oder Selbstverständnis. Ich lehne diese Haltungen, das Verhalten ab und will trotzdem versuchen, zu verstehen, warum und wann ein Mensch solche Positionen ganz oder teilweise angenommen hat).

Selbstwirksamkeit gegen Ohnmacht!

 

Nun ist der Container vom Parkplatz vom Strandbad Wandlitzsee längst wieder weitergezogen auf seiner Tournee durch ganz Deutschland, die bisher schon 140.000 Menschen besucht haben. Die Brandenburger Landtagswahlen sind vorbei und die Störung der Konstituierung des Thüringer Landtags hat nur als ein Beispiel gezeigt, wie groß die Gefahr zur Zerstörung der Demokratie ist, wenn es uns nicht gelingt, konstruktive Antworten und Handlungsvorschläge jenen zu machen, die glauben, sich nur noch mit dem Stimmkreuz bei den Rechtsradikalen Gehör verschaffen zu können.

Dazu möchte ich in meinem nächsten Text Schritte vorschlagen: Selbstwirksamkeit gegen Ohnmacht!

Bürgermeister Oliver Borchert dankt der KANTOREI WANDLITZ für ihren Beitrag bei den Toleranzräumen Bildnachweis: E. Schulte-Kuhnt, Gemeinde Wandlitz

Abonnieren Sie den

W.Punkt-Newsletter

Immer auf dem Laufenden bleiben und direkt im eigenen Postfach.